Rückblickend ist man immer schlauer. Das Projekt Celitement ist aber ein schönes Beispiel dafür, wie aus einer Idee der reinen Grundlagenforschung ein marktfähiges Produkt entstehen kann. Die Forscher am KIT hatten sich ursprünglich mit dem Hydratationsmechanismus der wichtigsten Mineralphase des Portlanzementklinkers, dem sog. Tricalciumsilikat (Ca3OSiO4 bzw. Summenformel Ca3SiO5 oder abgekürzt C3S) beschäftigt. Dabei haben Sie festgestellt, dass auf dem Weg zum Endprodukt der Hydratation dieser wasserfreien Calziumsilikatphase, dem sogenannten C-S-H also CalziumSilikatHydrat (dem „Kleber“ in Mörtel und Beton), kurzzeitig eine bis dahin unbekannte Zwischenphase entsteht. Die Idee war nun, diese Zwischenphase rein herzustellen und als bereits „halbfertiges“ Bindemittel zu nutzen. Diese reaktive und eigentlich nur sehr kurzzeitig in wässriger Lösung auftretende Zwischenphase der Zementhydratation überhaupt zu finden und analytisch genau zu charakterisieren, erfordert spezielle Kenntnisse und Analysentechniken, über die selbst die größten Zementhersteller in ihren Laboren nicht verfügen. Dafür gibt es Großforschungseinrichtungen wie die Helmholzgesellschaft, zu der auch das KIT gehört. Wir haben als Zementhersteller also nicht geschlafen oder waren zu „dumm“ das Prinzip Celitement selbst zu finden. Uns standen einfach nicht die stark interdisziplinär verknüpften Arbeitsgruppen und die nötige Großanalytik mit ihren sehr teuren und speziellen Maschinen und Anlagen, zur Verfügung. Und dann, da sollte jeder Forscher ehrlich sein, benötigt man sicher auch ein Quäntchen Glück um erfolgreich zu sein.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Entwicklung eines völlig neuartigen Bindemittels, einschließlich des hierfür erforderlichen Herstellungsverfahren von der Grundlagenforschung bis hin zur Marktreife bzw. bis zur Industrialisierung des Herstellungsverfahrens, Zeiträume von bis zu 15 Jahren benötigt. Der Entwicklungsprozess solcher Projekte wird u.a. über sogenannte TRL=Technical Readiness Level beschrieben.
Neben den o.g. produkt- und verfahrenstechnischen Entwicklungs- und Skalierungsarbeiten von der Idee (TRL=1), über die erste Laborsynthese bis zum Wirtschaftsbetrieb einer ersten industriellen Referenzanlage (TRL=9), sind u.a. auch behördlich-administrative Themenkomplexe für die Produkte, wie z.B. eine chemikalienrechtliche Registrierung, oder bauaufsichtliche Fragen, abzuarbeiten.
Darüber hinaus erfordert eine sichere Anwendung neuer Bindemittel auch von Seiten unserer Innovatoren und deren Kunden eine schrittweise Herangehensweise vom ersten Labortest bis zum genehmigungsrechtlich und marktwirtschaftlich abgesicherten Einsatz im industriellen Maßstab.
Kommerziell verfügbare Mengen an Celitementen setzten immer eine industrielle Produktionsanlage voraus. Grundlage jeder Investitionsentscheidung in eine, wir nennen es erste industrielle Referenzanlage um sie von der bestehenden Pilotanlage zu unterscheiden, sind drei Meilensteine:
1.1 Ein belastbares, von Anlagenbauern und Herstellern der benötigten Verfahrenstechnik abgesichertes Maschinen- und Anlagenkonzept. Dieses kann erst fertiggestellt werden, wenn für eine Industrieanlage die gesamte Maschinen- Verfahrens- und Leittechnik, sowie die Lager- und gebäudetechnische Infrastruktur, festgelegt ist. Auch die passenden Konzepte zur Produktions- und Qualitätssicherung müssen vollständig definiert sein.
1.2 Damit neue Stoffe (wie z.B. hCHS-Phasen) in Europa auf den Markt gebracht werden dürfen, müssen sie alle chemikalienrechtlichen Voraussetzungen (sog. REACH-Registrierung) erfüllen.
1.3 Das Produkt muss technologisch und preislich marktfähig sein und schon unmittelbar nach Inbetriebnahme der ersten Industrieanlage von Abnehmern in größeren Mengen eingesetzt werden können.
Alle drei Anforderungen zu erfüllen, ist für die Entwicklung eines vollständig neuen Bindemittelsystems ein langwieriger und teurer Prozess. Wir betreten dabei in vielen Bereichen völliges Neuland. Das sind, bildlich gesprochen, wirklich „dicke Bretter“ die hier gebohrt werden müssen. Man benötigt, speziell im Baustoffbereich, einen wirklich langen Atem für solche Neuentwicklungen. Zunächst sind immer relativ große Investitionen in Maschinen und Anlagen nötig um über genug Probematerial für praxisnahe Baustoffprüfungen zu verfügen. Erst mit der Inbetriebnahme unserer Pilotanlage Ende 2011 konnte damit begonnen werden, das zuvor nur im Labormaßstab erprobte Herstellungsverfahren, bis zur industriellen Reife weiter zu entwickeln. Der technologisch aufwändigste und anspruchsvollste Verfahrensschritt ist dabei die mechanochemische („tribochemische“) Aktivierungsmahlung. Die Auswahl der dafür optimalen Mahltechnik erforderte sehr umfangreiche und zeitaufwändige Vorversuche mit unterschiedlichsten Mahlsystemen. Erst im Jahr 2013 wurde daher eine sog. Rohrschwingmühle in der Pilotanlage installiert. Diese wurde ausgewählt, weil damit sehr flexibel der Energieeintrag, die Belastungsdauer und die auch Belastungsart, variiert werden kann. Nach Inbetriebnahme konnte dann erstmals auch Testmaterial in größeren Mengen (ca. 100kg pro Tag) hergestellt und praxisnah auf seine Produkteigenschaften geprüft werden. Ab Mitte 2021 wird die Celitement GmbH in ihrer Pilotanlage dann über ein wesentlich größeres und leistungsfähigeres Mahlsystem nach einem anderen Mahlprinzip verfügen. Das dann installierte System ist auch industriell skalierbar. Damit ist die wichtigste Komponente des Celitement-Herstellungsprozesses abschließend definiert. Die Auslegung und das vergabereife Engineering für eine industrielle Gesamtanlage sind weit fortgeschritten, aber noch nicht endgültig abgeschlossen.
Was ebenfalls sehr viel Zeit (und Geld) kostet sind genehmigungsrechtliche Fragen im Rahmen der Entwicklung neuer Stoffe. Das ist in der Öffentlichkeit häufig nicht bekannt. Um in Europa einen neuen Stoff vermarkten zu können, muss dieser eine chemikalienrechtliche Genehmigung nach der sog. REACH-Verordnung bei der zuständigen europäischen Behörde (ECHA) erwirken. Für Stoffe die später in einem Mengenband >1.000t auf den europäischen Markt gebracht werden sollen, ist die Erstellung eines sog. Stoffsicherheitsdossiers mit umfangreichen und teuren Versuchen vorgeschrieben. Sie sollten daher erst durchgeführt werden, wenn der neue Stoff in seiner endgültigen späteren Zusammensetzung und Eigenschaften schon sicher definiert ist. Diesen Punkt hatten wir Mitte 2014 erreicht. Wir haben dann im Laufe des Jahres 2014 mit den sehr aufwändigen chemikalienrechtlichen Prüfungen begonnen. Die sogenannte REACH-Registrierung wurde nach knapp vier Jahren im Jahr 2018 erfolgreich abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte die Celitement GmbH Versuchsmaterial nur im Rahmen einer sog. PPORD-Genehmigung (Product and Process Oriented Research and Development) an ausgewählte Innovatoren zu Forschungszwecken abgeben. Eine kommerzielle Vermarktung war, ganz abgesehen von den zu geringen Produktionsmengen aus der Pilotanlage, chemikalienrechtlich nicht erlaubt. Erst mit erfolgreichem Abschluss der REACH-Registrierung haben wir dann verstärkt mit sogenannten Innovatoren zusammengearbeitet, um Celitement bis zur endgültigen Marktreife zu optimieren. In vielen Labor- und auch Feldversuchen haben wir dabei große Fortschritte gemacht. Damit unser Gesellschafter, die Schwenk Zement KG aus Ulm, über die Investition in eine industrielle Anlage entscheiden kann, sind aber weitere Praxisversuche mit mehr Testmaterial (bis zu 5 Tonnen pro Versuch) nötig. Diese Mengen stehen erst nach der, bereits begonnenen, Erweiterung der Pilotanlage in Karlsruhe zur Verfügung. Erst nach abschließenden Versuchen mit den wesentlich größeren Versuchsmengen kann sicher beurteilt werden ob der Markt Celitement als neues Bindemittelkonzept so akzeptiert, dass die Investition in eine industrielle Referenzanlage auch wirtschaftlich gerechtfertigt ist.
Beantwortet man diese Frage mit dem technischen Reifegrad, so sehen wir uns für den Gesamtprozess bei Level 7. Ein Vorteil des Celitement Verfahrens liegt in der Tatsache, dass bei beiden Hauptverfahrensschritte Autoklaventechnik und Aktivierungsmahlung im Prinzip aus bekannten und bereits etablierten Herstellungsprozessen von Baustoffen bekannt sind. Die Autoklaventechnik unter Sattdampfbedingungen ist aus der Porenbeton- und Kalksandsteinproduktion bekannt. Die trockene Aktivierungsmahlung kann mit Mahlanlagen erfolgen, die aus der Feinstvermahlung bekannt ist. Die Art der Kombination dieser beiden Herstellungsstufen, sowie die dabei erzeugten Zwischen- und Endprodukte, sind aber völlig neu. Celitement haben wir über die gesamte bisherige Entwicklungszeit bereits in einem hohen zweistelligen Tonnenbereich produziert. Wir kennen die prinzipiellen Produkteigenschaften also schon recht gut. Aber gerade durch die Zusammenarbeit mit unseren Innovatoren haben wir viele Veränderungen im Detail vorgenommen. Wir sind uns nun aber sicher Material mit Eigenschaften produzieren zu können, welches den späteren Qualitäten aus einer Industrieanlage entspricht.